Geleitwort des Monats
Mai 2022
Die Worte des Monats geben Halt und informieren Sie über theologische Aspekte. Dieses Mal sind die Worte von Pfarrer Jürgen Kaiser.
Heidelberger Katechismus: Von des Menschen Elend: „Woher erkennst du dein Elend? - Aus dem Gesetz Gottes.” (Frage 3)
Dass der Mensch von Grund auf böse ist und vollkommen unfähig, aus sich selbst heraus etwas Gutes zu tun, das ist für die Reformatoren, für Martin Luther ebenso wie für Johannes Calvin, eine essentielle Einsicht.
Gegen solch eine scheinbar zutiefst pessimistische und pauschale Menschensicht regt sich Widerspruch. In der Tat entspricht sie zunächst nicht unserer Lebenserfahrung und Menschenkenntnis. Wir erleben uns selbst und die Menschen um uns herum differenziert: Nicht alles an uns ist böse, manches machen wir gut, einiges gelingt, manchmal machen wir Fehler, meist ungewollt, selten in böser Absicht. Die Wirk- lichkeit des Menschen ist nicht schwarz oder weiß, sie ist grau, in vielen Schattierungen. Um uns in der Gesellschaft orientieren zu können, müssen wir differenzieren. Wir können es uns gar nicht leisten, alle Menschen über einen Kamm zu scheren.
Nach dem fulminanten Auftakt in Frage 1 nach dem einzigen Trost im Leben und im Sterben führt uns der Heidelberger Katechismus in die Erkenntnis unseres Elends und meint damit die Einsicht in die vollkommene Unfähigkeit zum Guten. Jedoch stellt er klar, dass die Erkenntnis unseres Elends nicht der Lebenserfahrung und Menschenkenntnis entspringt. Vielmehr ist es Gott, der uns durch sein Wort zu dieser Einsicht bringt.
Nicht im Blick auf uns selbst erkennen wir unser Elend sondern - wie der Heidelberger Katechismus sagt - aus dem Gesetz Gottes. Das Gesetz Gottes ist Gottes Wort, und zwar dasjenige Wort, das uns sagt, was Gott von uns fordert. Das Gesetz ist nicht etwa - so ein verbreitetes Missverständnis - das Alte Testament. Was das Gesetz Gottes von uns fordert, beant- wortet der Heidelberger Katechismus mit der „Sum- me des Gesetzes” (Matth. 22,37-40), also mit einer Kernaussage Jesu, die wie kaum eine andere Jesu Verwurzelung in der Theologie der Tora zeigt.
Die „Summe des Gesetzes” offenbart die Totalität von Gottes Anspruch an uns: Wir sollen Gott „lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüt”. Dieser Totalität können wir mit unserem bisschen Leben, das aus Halbheiten besteht und von Kompromissen lebt, nicht gerecht werden. Das ist unser Elend. Kein Elend, das vor Augen ist und an dem wir immerzu leiden, sondern ein Elend, das wir erst aus Gottes Wort erkennen. Es ist also eine Erkenntnis, die nur der Glaube realisiert, mithin ein geglaubtes Elend. Dass wir alle Sünder sind, ist nicht Erfahrung sondern Bekenntnis.
Deshalb verzichtet der Heidelberger Katechismus darauf, das Elend auszumalen. Er weidet sich nicht an der schamvollen Erkenntnis unserer Unzulänglichkeit. Er bleibt gerade hier nüchtern und zurückhaltend.
Für mich hat auch dieser Teil unseres Glaubens, die Einsicht in unser Elend, etwas Tröstliches. Sie relativiert nämlich all die Unterschiede, die wir zwischen uns machen und unter denen wir so oft leiden. Am Ende ist keiner, der nicht auf Gottes Erbarmen angewiesen wäre. Am Ende ist keiner, der es nicht nötig hätte, von Gott allein aus Gnade angenommen zu werden. Die Offenbarung unseres Elends ist die große Gleichmacherei Gottes. Sie schenkt mir einen gnädigen Blick auf mich selbst und die anderen.
Quelle: Gemeindebrief Mitte, Mai 2013. Jürgen Kaiser