Geleitwort des Monats

Juni 2021

Die Worte des Monats geben Halt und informieren Sie über theologische Aspekte. Dieses Mal sind die Worte von Pfarrer Jürgen Kaiser.

Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen. - Apg 5,29

Dieser Satz ist klar, eindeutig und entschieden. Und auch logisch: Wer an Gott glaubt, kann das ja im Grunde gar nicht anders sehen. Was machte es für einen Sinn, an Gott zu glauben, wenn ich ihm nicht mehr Autorität zubilligte als den Menschen?
Sobald man jedoch anfängt, über den Satz nach- zudenken, verschwindet alle Klarheit und es wird kompliziert. Was heißt denn, Gott gehorchen? Wo erfahre ich, was Gott von mir will? Heißt Gott gehorchen, die Zehn Gebote befolgen? Oder heißt es, alles zu befolgen, was in der Bibel steht? Bezieht es sich nur auf Gebote, Ratschläge, Ermahnungen oder auch auf Weltbilder und Wissenschaftliches? Heißt, Gott mehr als den Menschen zu gehorchen, etwa auch, die Schöpfungserzählungen, mit denen die Bibel beginnt, wörtlich zu nehmen und die naturwissenschaftlich evolutionäre Sicht der Welt- und Lebensentstehung zu verleugnen? Oder teilt sich Gott im Gewissen mit? Soll ich allein meinem Gewissen folgen? Aber ist mein Gewissen so unabhängig von allem, was Menschen sagen? So klar und eindeutig der Satz daherkommt, so unklar wird er, wenn man anfängt, über ihn nachzudenken.
Der Satz hat auch Sprengkraft. Er könnte die Christen gegen den Staat, gegen Ideologien und Weltanschauungen oder gegen tonangebende Gruppen in Stellung bringen. Er könnte den Widerstand der Christen mobilisieren und ihre Weigerung begründen, bei Dingen mitzumachen, die gegen das sind, was sie von Gott geboten glauben.
Petrus sprach den Satz, als er und seine Apostelkollegen mal wieder vorm Hohen Rat erscheinen mussten, weil sie sich nicht an dessen Predigtverbot gehalten hatten. Sie begründeten ihren Ungehorsam gegenüber den jüdischen Autoritäten mit dem höheren Gehorsam gegenüber Gott. Sicher hat man den Satz im Römischen Reich oft zitiert, immer dann, wenn die Christen verfolgt wurden, Luther hatte ihn oft gegen die Papstkirche ins Feld geführt, und er ermutigte die Hugenotten, die Befehle des Königs zu missachten und an ihrem reformierten Glauben festzuhalten. Auch in der Nazi-Zeit und in der DDR wurde der Satz gehört. Immer dann, wenn das, was Menschen als gültig proklamierten, allzu offensichtlich dem widersprach, was Gott geltend machte.
In unseren Tagen beruft man sich selten auf den Satz. Das muss man nicht bedauern. Es könnte ja sein, dass wir den Satz in unseren Zeiten nicht so nötig brauchen. Christen dürfen sagen, was sie wollen. Es gibt keine Predigt- und Redeverbote. Niemand wird zu einer bestimmten Meinung gezwungen. Darüber hinaus geraten christliche Moral und humanitäre Ethik selten in Widerspruch. Auch wenn die Zeit der Volkskirche vorbei zu sein scheint, leben wir im Grunde in einer christlichen Gesellschaft. Staatstragende Reden des Bundespräsidenten unterscheiden sich kaum mehr von bischöflichen Predigten. Man kann das als Staatsnähe oder Profillosigkeit des deutschen Protestantismus kritisieren. Ich würde es jedoch zuerst als Indiz dafür deuten, dass es auch in unserer säkularen und kirchendistanzierten Gesellschaft einen Grundgehorsam gegenüber den Werten eines menschenfreundlichen und gerechtigkeitsliebenden Gottes gibt. Widerstand aus Gewissensgründen ist – Gott sei Dank – doch nur selten nötig.

Quelle: Gemeindebrief Berlin-Mitte, Juni-Juli 2021. Jürgen Kaiser