Geleitwort des Monats

Oktober 2021

Die Worte des Monats geben Halt und informieren Sie über theologische Aspekte. Dieses Mal sind die Worte von Pfarrer Jürgen Kaiser.

Lasst uns aufeinander achthaben und einander anspornen zur Liebe und zu guten Werken. - Hebr 10,24

Bei diesem Wort habe ich sehr gemischte Gefühle. Einerseits gefällt mir die Aufforderung, dass wir aufeinander achten sollen. Eine Gemeinde ist ja erst dann eine christliche Gemeinschaft, wenn jeder zum Seelsorger oder zur Seelsorgerin des anderen wird. Wenn jede sich für die andere interessiert, jeder auf den anderen achthat, sich nach ihm erkundigt und nach der Frage: „Wie geht es dir?“ tatsächlich hört, was die Gefragte zu sagen hat und nicht nur auf eine Gelegenheit lauert, vom eigenen Ungemach zu berichten. Aufeinander achthaben, das erfordert manchmal ganz schön viel Mut. Man muss aushalten, was die anderen erzählen, bei ihnen bleiben, nicht flüchten vor unangenehmen Themen, nachfragen und manchmal auch Schweigen aushalten.
Andererseits frage ich mich, ob die Aufforderung, aufeinander achtzuhaben, nicht auch die Aufforderung zu gegenseitiger Kontrolle meint. Sollen wir etwa auch darauf achten, ob sich der Nachbar ungebührlich verhält? Sollen wir einschreiten, wenn er am Sonntag den Rasen mäht oder sein Auto wäscht? Es melden, wenn in der Wohnung unter mir immer rumgeschrieen wird?
Der zweite Teil der Aufforderung aus dem Hebräerbrief lässt vermuten, dass es beim Aufeinander Achthaben nicht nur um seelsorgerliche Empathie geht. Wir sollen aufeinander aufpassen und uns gegenseitig zu guten Werken und zur Nächstenliebe anspornen. Das mag zunächst unverdächtig klingen, aber Menschen, die im realexistierenden Sozialismus lebten, werden an dieser Stelle hellhörig. Der Sozialismus wollte mit einer alles durchdringenden Sozialkontrolle den sozialistischen Menschen schaffen. Das hat aber am Ende zu nichts anderem geführt, als zu Angst, Verlogenheit und Heuchelei.
Aufeinander achthaben und zur Liebe und zu guten Werken anspornen - das könnte auch das Motto für das sein, was Calvin in seiner Genfer Gemeinde versuchte und was in der Kirchengeschichte unter dem fürchterlichen Titel „Kirchenzucht bei Calvin“ firmiert. Alle sollten sich gegenseitig im Auge haben, Älteste die Menschen in den ihnen zugewiesenen Quartieren im Blick haben, um sich gegenseitig zu ermahnen. Besonders schwere und renitente Fälle von Unsittlichkeit wurden vor dem Kirchenrat verhandelt. Seit langem schon wird darüber gestritten, ob das alles mehr unter dem Gesichtspunkt der Seelsorge, der Nachbarschaftshilfe, der Streitschlichtung, der Versöhnungs- und Friedensarbeit zu sehen ist oder mehr unter dem Gesichtspunkt der Sozialkontrolle und Bespitzelung und als Versuch zu werten ist, mit unheiligen Mittel ein heiliges Gemeinwesen zu errichten. Noch vor wenigen Jahren veröffentlichte der Schweizer Historiker Volker Reinhardt eine Untersuchung zur Genfer Reformation unter dem programmatischen Titel: „Die Tyrannei der Tugend“. Möglicherweise hat Calvin das erste gewollt, aber das zweite erreicht.
Wir leben heute nicht mehr in einem christlichen Gemeinwesen. Wir können unseren Nachbarn nicht mit dem Hinweis auf das Sabbatgebot daran hindern, am Sonntag sein Auto zu waschen. Wir können es aber selber sein lassen, und Vorbild sein. Wir müssen heute die beiden Teile der Aufforderung aus dem Hebräerbrief deutlich voneinander unterscheiden: Aufeinander achthaben und empathisch miteinander umgehen ist das eine, Anreiz zum guten Tun zu geben durch eigenes vorbildliches Handeln ist das andere.

Quelle: Gemeindebrief Mitte, Oktober 2021. Jürgen Kaiser